Polyästhetik – Wikipedia

Polyästhetik oder Polyästhetische Erziehung (vom Altgriechischen πολυ (poly) für viel und αἴσθησις (aísthēsis) für Wahrnehmung) ist ein kunstpädagogisches Konzept, das im Zuge der 68er-Bewegung im 20. Jahrhundert in Hamburg aufkam.

Fachhochschule für Gestaltung, Hamburg, 1970

Konzeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Begriff Polyästhetik stammt ideengeschichtlich von Natias Neutert, den der Dekan Hans Weckerle 1970 als Dozent an die Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg berief. Seine dort gehaltene Antrittsvorlesung ist Plädoyer für ein neu einzurichtendes kunstpädagogisches Fach, das die Grenzen bisheriger Ästhetikauffassungen weitläufig überschreiten soll.[1] Während Neuterts kunstpädagogische ‚Bausteine‘ als „freies Gedankenspiel“ in essayistischer Form skizziert sind, kommt dem Kunstpädagogen Wolfgang Roscher und seinen Kollegen das Verdienst zu, diese zu einem pragmatischen Konzept einer ästhetisch multimedialen Erziehung ausgebaut zu haben.[2]

Wirkung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die von Herbert Marcuses neomarxistischen Ideen inspirierten sechs Übungs- und Lernfelder Produktion, Reproduktion, Demonstration, Reflexion, Konsumtion und Rezeption, die Roscher und Kollegen der polyästhetischen Praxis zugrunde legen, haben sich auf dem Gebiet der so genannten ‚musischen Bildung‘ als besonders anschlussfähig erwiesen.[3]

Neuterts Ansatz einer Grenzüberschreitung traditioneller Ästhetik baut – angeregt durch seine Forschungstätigkeit in der von ihm gegründeten, ersten Internationalen Walter Benjamin Gesellschaft – auf der Konzeption eines nicht strikt regelgeleiteten, sondern improvisierten und offenen Spiels auf, das unseren Möglichkeitssinn gegenüber der kruden Wirklichkeit üben und schärfen solle; gemäß der Formel: „Spielen erzeugt eine eigene Wirklichkeit: die der Möglichkeiten.“[4] Diese Formel, im Kulturbetrieb nicht umsonst immer wieder zitiert und als Handlungsmotto verwendet,[5] hat die Karlshochschule International University anlässlich ihres kulturtheoretischen Diskurses ‚Lernen durch Spielen’ sinnvollerweise eng mit Heinz von Foersters Ethischer Imperativ verknüpft. Das Zusammenspiel von Heinz von Försters ethischem Imperativ und Natias Neuterts Formel betont die Bedeutung spielerischer Offenheit für neuartige Ideen, Perspektiven und Lösungen, um die Vielfalt an Wahl- und Handlungsmöglichkeiten im Sinne einer vollentfalteten Conditio humana zu erweitern.[6]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Natias Neutert: Bausteine für eine polyästhetische Erziehung. Hrsg. v. Hans Weckerle, Fachhochschule für Gestaltung, Verlag Einsteins Erben, Hamburg 1971.
  • Wolfgang Roscher et al: Polyästhetische Erziehung. Klänge, Texte, Bilder, Szenen. Theorien und Modelle zur pädagogischen Praxis. Köln, 1976. ISBN 3-7701-0844-2
  • Erika Funk-Hennigs: Musische Bildung – Polyästhetische Erziehung. Eine historisch vergleichende Studie über zwei musikdidaktische Ansätze des 20. Jahrhunderts In: Musikpädagogische Forschung Band 1 Einzeluntersuchungen. Hrsg. vom Arbeitskreis Musikpädagogische Forschung e. V. durch Klaus-E. Behne, Laaber Verlag, Lilienthal bei Bremen, 1980.
  • Sabrina Tiedtke: Polyästhetische Erziehung mit Jugendlichen als Grundlage zur Auseinandersetzung mit der Welt. Diplomarbeit, 2002.
  • Michaela Schwarzbauer/Gerhard Hofbauer (Hrsg.): Polyästhetik im 21. Jahrhundert. Chancen und Grenzen ästhetischer Erziehung. Tagungsband des 24. Polyaisthesis-Symposions auf Schloss Goldegg 2008. Reihe Polyästhetik und Bildung. Lang, Frankfurt u. a. 2007, ISBN 978-3-631-56806-4.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Natias Neutert: Bausteine für eine polyästhetische Erziehung. Hrsg. Hans Weckerle, Fachhochschule für Gestaltung, Verlag Einsteins Erben, Hamburg 1971,
  2. Vgl. Wolfgang Roscher (Hrsg.): Polyästhetische Erziehung. Klänge, Texte, Bilder, Szenen. Theorien und Modelle zur pädagogischen Praxis. Köln 1976, ISBN 3-7701-0844-2.
  3. Vgl. Erika Funk-Hennigs: Musische Bildung — Polyästhetische Erziehung. Eine historisch vergleichende Studie über zwei musikdidaktische Ansätze des 20. Jahrhunderts In: Musikpädagogische Forschung Band 1 Einzeluntersuchungen. Hrsg. vom Arbeitskreis Musikpädagogische Forschung e. V. durch Klaus-E. Behne, Laaber Verlag, Lilienthal bei Bremen 1980, S. 43 https://www.pedocs.de/volltexte/2022/24731/pdf/AMPF_1980_1_FunkHennigs_Musische_Bildung.pdf
  4. Natias Neutert: Spielen ist ein ernster Fall. In: Hamburger Morgenpost Nr. 77, 1. April 1971, Magazin, S. 4
  5. u. a. https://www.kunstmuseumbochum.de/ausstellung-veranstaltung/details/zwischenbilanz-des-bochumer-kuenstlerbundes/ sowie https://libdoc.fh-zwickau.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/7275/file/thesis_christian_goethner_2013.pdf
  6. Vgl. https://blog.karlshochschule.de/2012/05/14/learning-by-playing-gamification-in-der-lehre/