Scharia – Wikipedia

Die Scharia,[1] das islamische Gesetz, beschreibt „die Gesamtheit aller religiösen und rechtlichen Normen, Mechanismen zur Normfindung und Interpretationsvorschriften des Islam“.[2] Ein einziger Gott (Allah) gilt in diesem Rechtssystem als der oberste Gesetzgeber (شارع Schāri‘, DMG šāriʿ, auch „Beginner“).[3] Sein Gesetz sei Grundlage der göttlichen Offenbarung im Koran. Bei der Scharia handele es sich allerdings nicht um ein kodifiziertes, unveränderliches Rechtssystem, sondern um „ein Regelwerk, welches sich stets im Wandel befindet“. Scharia lasse sich deshalb nur verstehen, wenn man die „Rechtsquellen- und Rechtsfindungslehre“ (uṣūl al-fiqh) statt „inhaltliche[r] Einzelregelungen“ betrachtet.[4]

Die Scharia leitet sich aus Interpretationen islamischer religiöser Texte ab, was bedeutet, dass es keinen Konsens darüber gibt, wie die Scharia wirklich umgesetzt werden sollte, wenn es um Staaten geht, die die Scharia als Teil ihrer Gesetzgebung haben. Länder wie Saudi-Arabien haben die Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung; da das Land jedoch auf dem Wahhabismus gegründet ist, setzt der Staat eine wörtliche Interpretation religiöser Texte um, während er sich weigert, sie zu kontextualisieren. Dies hat zu viel Kritik innerhalb der muslimischen Weltgemeinschaft geführt.[5]

  • Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit oder Mitglieder der OIC, in denen die Scharia keine Rolle im Rechtssystem spielt
  • Länder mit säkularem Rechtssystem, in denen die Scharia im Privatrecht (z. B. Ehe, Scheidung, Erbrecht, Sorgerecht) Anwendung findet
  • Länder mit Gültigkeit der Scharia
  • Länder mit regional unterschiedlicher Anwendung der Scharia
  • Etymologie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Das eingedeutschte Wort „Scharia“ wird auf die arabische Wurzel ŠRʿ (transliteriert aus arabisch شَرَعَ, DMG šaraʿa ‚anfangen, beginnen‘)[6] zurückgeführt. Ein Großteil arabischsprachiger Anhänger von Religionen des Nahen Ostens setzen diesen Begriff den Vorschriften einer prophetischen Religion gleich. Daraus entstanden Begriffe wie Scharīʿat Mūsā bzw. Scharīʿat al-Mūsā (das Gesetz/die Religion Mose),[7] Scharīʿat Madschūs (die zoroastristische Lehre) oder allgemein für Monotheisten als Bezeichnung für ihre Religionsvorschriften (Scharīʿatunā). Im Islam bezeichnet Scharia die „Regeln und Regulierungen, die das Leben von Muslimen bestimmen“ und Koran sowie Sunna entstammen.[8]

    Koran[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Der Begriff Scharia hat, was den Islam angeht, seinen Ursprung im Koran. Erwähnt wird er dort jedoch nur an einer einzigen Stelle: Sure 45, Vers 18, wo er ursprünglich den Pfad in der Wüste bezeichnet, der zur Wasserquelle führt. Davon leiten Muslime einen göttlichen Ursprung der Scharia ab.

    „Wir haben doch (seinerzeit) den Kindern Israels die Schrift, Urteilsfähigkeit und Prophetie gegeben, ihnen (allerlei) gute Dinge beschert, sie vor den Menschen in aller Welt ausgezeichnet […] Hierauf (d. h. nach dem Zeitalter der Kinder Israels) haben wir dich in der Angelegenheit (?) auf einen (eigenen) Ritus festgelegt [ṯumma ǧaʿalnāka ʿalā šarīʿatin]. Folge nun ihm, und nicht den (persönlichen) Neigungen derer, die nicht Bescheid wissen!“

    Sure 45, Verse 16 und 18

    Die Verbform šaraʿa tritt im Korantext an zwei Stellen auf:

    „Und frag sie (d.h. die Kinder Israels bzw. die Juden) nach der Stadt, die am Meer (oder: Fluß) lag, (wie es damals zuging) als sie (d.h. die Bewohner der Stadt) (unser Gebot) hinsichtlich des Sabbats übertraten! (Damals) als ihre Fische am Tag, an dem sie Sabbat hatten, zu ihnen nach oben geschwommen (?) kamen [ḥītānuhum yauma sabtihim šurraʿan], jedoch dann, wenn sie nicht Sabbat feierten, (überhaupt) nicht kamen. So prüften (w. prüfen) wir sie (zur Vergeltung) dafür, daß sie gefrevelt hatten.“

    Sowie

    „Er hat euch als Religion verordnet [šaraʿa lakum], was er (seinerzeit) dem Noah anbefohlen hat, und was wir (nunmehr) dir (als Offenbarung) eingegeben, und was wir (vor dir) dem Abraham, Mose und Jesus anbefohlen haben (mit der Aufforderung) Haltet die (Vorschriften der) Religion und teilt euch darin (d.h. in der Religion) nicht (in verschiedene Gruppen)! Den Heiden (w. Denen, die (dem einen Gott andere Götter) beigesellen) kommt es (allerdings) schwer an, wozu du sie rufst. (Aber) Gott erwählt dazu, wen er will, und führt dazu (auf den rechten Weg) wer sich (ihm bußfertig) zuwendet.“

    Verwandt sind ferner die im Koran vorkommenden Wörter širʿ a (Sure 5, Vers 48) und šurraʿ (Sure 7, Vers 163).[9]

    Hadīth[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    In Ahmad ibn Hanbals Musnad tritt das Nomen „Scharia“ im Singular an einer Stelle auf. Dort heißt es, dass „die Gemeinschaft auf der Scharia (dem Weg/Pfad)“ bleiben solle. Im Plural tritt Scharia in Verbindung mit Islam (šarāʾiʿ al-islām) und Īmān (šarāʾiʿ al-īmān) sowie in der Aufzählung „der Glauben rührt aus den Pflichten, der Scharia, den Hudūd und der Sunna“ (inna li-l-īmān farāʾiḍ wa-šarāʾiʿ wa-ḥudūd wa-sunan) auf. Als Verb taucht scharaʿa an einer Stelle auf: „Gott hat für seinen Propheten Wege der Rechtleitung niedergelegt“ (šaraʿa li-nabi-hi sunan al-hudā).[10]

    Definition[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Scharia ist ein Begriff, den neben dem Islam auch andere monotheistische Religionen im Nahen Osten verwendet haben. Hier einige Beispiele:

    Islam[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    „Die Scharia basiert auf dem Koran und auf der sich ab der Mitte des 7. Jahrhunderts herausbildenden Überlieferung vom normsetzenden Reden und Handeln Mohammeds“,[11] welches sich in der Sunna manifestiert. Dabei ist die Scharia keine kodifizierte Gesetzessammlung (wie etwa deutsche Gesetzestexte im Bürgerlichen Gesetzbuch oder im Strafgesetzbuch), sondern eine „Methode und Methodologie der Rechtsschöpfung“.[12]

    Handlungen muslimischer Gläubiger unterscheiden sich dabei in den fünf Beurteilungen

    • farḍ („Pflicht“) oder wādschib („obligatorisch“),
    • mandūb („empfohlen“), auch mustahabb („erwünscht“) oder sunna,
    • mubāh oder halāl („erlaubt“),
    • makrūh („verpönt“),
    • mahzūr oder harām („verboten“).[13][14]

    Eine weltliche Sanktion ist dabei nicht immer gegeben, für viele Handlungen müssen sich Muslime auch erst im Jenseits vor Gott verantworten.[15] Da der durchschnittliche Gläubige sich aber nicht in allen Belangen auskennen kann, hat er die Möglichkeit, islamische Rechtsgelehrte um ein Rechtsgutachten (arabisch Fatwa) zu fragen.[16]

    Im islamischen Normenfindungsprozess wird zwischen kultischen und rituellen Vorschriften (العبادات / al-ʿibādāt / ‚gottesdienstliche Handlungen‘) des Menschen einerseits und seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen (al-muʿāmalāt / المعاملات / ‚gegenseitige Beziehungen‘) andererseits unterschieden.[17] Ein in europäischem Sinne festgelegtes „Familienrecht“, „Erbrecht“, „Strafrecht“ – oder andere – kennt das islamische Rechtssystem bzw. das ausschließlich von männlichen Geistlichen bestimmte islamische Recht nicht.[18] Seine Darstellung ist den Rechtsschulen in ihren Fiqh-Büchern, mit teilweise deutlich kontroversen Rechtsauffassungen, vorbehalten.[19]

    Diese Widersprüche soll ein Muslim akzeptieren. Das Forschen nach der Bedeutung und inneren Logik der göttlichen Gesetze ist nur zulässig, soweit Gott selbst den Weg dazu weist. Somit ist die religiöse Wertung aller Lebensverhältnisse die Grundtendenz der Scharia.[20]

    In Bezug auf den ethisch-religiösen Bereich ist laut Abū l-Hasan al-Aschʿarī die Scharia als „[…] die Gesamtheit der auf die Handlungen des Menschen bezüglichen Vorschriften Allāhs zu verstehen“. In diesem Kontext ist sie ethisch-religiös als Aspekt der göttlichen Ordnung, die das sittliche Verhalten der Menschen betreffen, zu verstehen.[21]

    Judentum[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Zur Übersetzung des hebräischen Wortes Tora verwendete der arabischsprachige Jude Saʿadia Gaon (882–942) „Scharia“ im Sinne von Gesetz, zum Beispiel in Ex 13,9 EU: (šarīʿat allāh für ‚das Gesetz Gottes‘) und in Dtn 4,44 EU: (hāḏihi š-šarīʿat..: „Dies ist das Gesetz des Brandopfers“). In Gaons Tafsīr aus dem 10. Jahrhundert beschreibt Scharia also stets eine Regel oder ein System von Regeln. Bemerkenswert ist dies, weil der Begriff Scharia verwendet wird, obwohl dafür an einigen Stellen auch das arabische Wort für Tora (at-taurāt) auftritt.[22]

    In seinem theologischen Werk Kitāb al-amānāt wa-l-iʿtiqādāt („Buch der Glaubensinhalte (wörtlich: Treuhänderschaften) und Überzeugungen“) bezeichnet der Begriff Scharia individuelle Rechte und Recht als ein von Gott offenbartes System. Gaon unterscheidet zudem zwischen rationalen und offenbarten Gesetzen. Das Verb scharaʿa mit Gott als Subjekt bezeichnet darüber hinaus an einer Stelle „ein Gesetz niederlegen“.[23]

    Christentum[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Der Jakobite ʿĪsā ibn Ishāq ibn Zurʿa (943–1008) benutzte in einem polemischen Werk gegen Juden das Wort Scharia als ein System von Gesetzen, das Propheten den Menschen bringen. Die christliche Religion und das Gesetz des Messias gibt er mit Scharīʿat al-Masīh und Sunnat al-Masīh wieder.[24]

    Scharia und Fiqh[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Unter den „Wurzeln der Rechtsfindung“ (uṣūl al-fiqh) versteht man die Gesetzeswissenschaft im Islam, deren Gegenstand die Scharia ist. Sie entspricht der iuris prudentia (Rechtswissenschaft) der Römer und erstreckt sich auf alle Beziehungen des religiösen, bürgerlichen und staatlichen Lebens im Islam. Die religiösen Gesetze werden in den Büchern des Fiqh dargelegt und erörtert. Ibn Chaldūn erklärt dazu:

    „Der fiqh ist die Kenntnis der Bestimmungen (aḥkām) Gottes des Erhabenen zur Einordnung der Handlungen derjenigen, die diesen Bestimmungen jeweils unterworfen sind (al-mukallafīn), als geboten, verboten, empfohlen, missbilligt und schlicht erlaubt, die aus dem Koran, der Sunna und dem, was der Gesetzgeber (Gott) als weitere Quellen und Instrumente (adilla) zu ihrer Erkenntnis bereitgestellt hat, entnommen werden, und wenn die Bestimmungen durch diese Quellen und Auslegungsinstrumente herausgefunden werden, so nennt man sie fiqh.“[25]

    Fiqh ist kein starres Rechtssystem, das unwandelbar alle Zeiten überlebt hat und an allen Orten gültig ist. Islamwissenschaftler, Arabisten und Ethnologen (beispielsweise Gudrun Krämer,[26] Thomas Bauer,[27] Ingrid Thurner[28]) betonen immer wieder, dass Meinungspluralismus keineswegs in Widerspruch zur Scharia steht.

    Quellen des islamischen Rechts[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Scharia als Grundlage des islamischen Rechts speist sich aus einer Vielzahl von Quellen. Koran und Hadīth sind von allen islamischen Strömungen als Quellen anerkannt, hinsichtlich der restlichen Quellen herrscht kein Konsens.

    Koran[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Zwar ist der Koran die wichtigste Quelle islamischen Rechts. Allerdings enthält er nur einige Rechtsnormen, ferner einzelne Anweisungen, die lediglich als Grundlage einer allgemeinen, umfassenden Gesetzgebung gelten können. Laut Rohe weisen circa 500 Verse einen rechtlichen Bezug auf. Die meisten davon behandeln religiöse Ritualvorschriften (ʿibābāt) und nur einige Dutzend beschäftigen sich mit straf- und zivilrechtlichen Fragestellungen. Die letzte Kategorie lässt sich noch in Erb-, Ehe- und Familienrecht sowie einige Strafbestimmungen und die Almosensteuer untergliedern.[29]

    Da viele dieser Stellen im Koran aber nicht eindeutig sind, haben Exegeten die Verse in solche aufgeteilt, die keiner Auslegung bedürfen (muḥkam) und in solche, deren Bedeutung sich nicht von vornherein erschließt. Es bildete sich deshalb ein eigenes Genre heraus, welches sich mit der Auslegung des Korans beschäftigt: Tafsīr. In zwölfer-schiitischen Kreisen wird sogar angenommen, dass die Menschen nach der Entrückung des letzten Imām Muhammad al-Mahdī die genaue Bedeutung des Korans nicht mehr erfassen könnten. Schließlich könnten die wahre Bedeutung des Korans und seinen normativen Charakter nur die zwölf Imāme verstehen.[30]

    Sunna[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Die zweite wichtige Quelle des islamischen Rechts ist für Sunniten die Sunna Muhammads. Während sich das islamische Recht herausgebildet hat, galten und gelten noch heute für Sunniten die Überlieferungen über die Prophetengenossen ebenfalls als Teil der Sunna. Großteils werden im sunnitischen Islam heute nur noch diejenigen Überlieferungen Muhammads anerkannt, die er in seiner Funktion als Prophet und nicht als Mensch getätigt hat. Dafür gibt es mehrere Aussprüche Muhammads selbst, mit dem dieser selektive Gebrauch begründet wird. Beispielsweise heißt es in einem Hadīth: „In euren weltlichen Angelegenheiten wisst ihr besser Bescheid (als ich).“ Muslime kritisieren dennoch andere Muslime, dass manchen diese Trennung schwer falle.[31]

    Schiiten dagegen erkennen neben den Überlieferungen Mohammeds diejenigen der zwölf Imāme an.[32]

    Idschmāʿ[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Der Konsens (Idschmāʿ) konstituiert die erste Quelle des islamischen Rechts, die menschengemacht ist. Darunter versteht man den „Konsens aller relevanten Gelehrten in Übereinstimmung mit Koran und Sunna“.[33]

    Qiyās[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Auch der Analogieschluss ist eine Quelle der Scharia.[34]

    Istihsān[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Das „Für-besser-halten“ ist vor allem in der hanafitischen Rechtsschule ein beliebtes Instrument. Andere Rechtsschulen lehnen Istihsān mit Verweis auf Willkür ab, sehen es in manchen Fällen aber auch als zulässig an. Hanafiten gebrauchen ihn oft, um andere Rechtsquellen, vor allem den Qiyās, zu umgehen.[35]

    Istislāh[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Der allgemeine Nutzen, auch al-masālih al-mursala, fand bei den Hanbaliten, den Malikiten und den Schafiiten Eingang. Istislāh ist ein Instrument, welches es dem Rechtsgelehrten erlaubt, bei seiner Entscheidung den allgemeinen Nutzen als Grund für seine Entscheidung anzugeben.[36]

    Madhhab as-Sahābī[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    „Die Auffassungen der (einzelnen) Prophetengenossen“ können in manchen Fällen ebenso Teil der Scharia sein und als Quelle für eine Entscheidung herangezogen werden.[37]

    ʿUrf[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Das Gewohnheitsrecht, auch ʿāda, ist anerkannt, sofern es Regeln innerhalb der Scharia nicht widerspricht. Durch die Integration lokaler Bräuche in das islamische Recht finden sich noch heute vor allem an den Rändern der islamischen Welt Beispiele, die wenig mit den Gepflogenheiten der Schariaanwender gemein haben. Dadurch wurde auch die Ausbreitung des Islams erleichtert.[38]

    Sadd ad-Darāʾiʿ[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Alles, was zu Verbotenem führen kann, wird durch das „Versperren der Mittel“ ebenfalls verboten. Hanbaliten und Malikiten beziehen in ihre Beurteilung vor allem die Absicht (nīya) mit ein, während Hanafiten und Schafiiten die Mittel nur versperren, wenn ein Verbot mit großer Wahrscheinlichkeit vermieden werden soll.[39]

    Istishāb[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Die Beibehaltung, auch Normen derer vor uns (šarʿ man qablanā), bezeichnet den Fortbestand einmal begründeter Rechtsverhältnisse. Denn nur so könne beispielsweise erworbenes Eigentum sicher sein.[40]

    Scharia und ihre Gültigkeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Die Islamwissenschaftler Otto Spies und Erich Pritsch sehen in der Gültigkeit der Scharia einen grundsätzlichen Unterschied zum europäischen Recht:

    „Rechte und Ansprüche der Menschen erscheinen grundsätzlich nur als Reflexe religiöser Pflichten. Daher ist die Freiheit des Einzelnen im Scheriatrecht weit mehr eingeschränkt als im abendländischen Recht. Während hier alles erlaubt ist, was nicht gesetzlich verboten ist, verbietet der Islam alles, was nicht gesetzlich erlaubt ist. Er kennt daher auch nicht den unser heutiges Recht beherrschenden Grundsatz der Vertragsfreiheit; zulässig ist nur der Abschluss von Verträgen, die scheriatrechtlich erlaubt sind.“[41]

    Dieser Auffassung widerspricht Rohe in hohem Maße:

    „[…] zwei wichtige gemeinsame Grundsätze. Erstens: Alles nicht Verbotene ist erlaubt […]. Zweitens: Ohne besondere Anordnung besteht keine Verpflichtung […]. Dies ist hervorzuheben, weil eine verbreitete, von unzutreffendem Vorverständnis geprägte Sicht fälschlich das Gegenteil behauptet.“[42]

    Rohe zitiert den Juristen der frühen Abbasidenzeit ʿĪsā ibn ʿAbān als Beispiel für eine von Spies und Pritsch vertretene Ansicht. Jedoch betont Rohe, dass diese Sichtweise nicht verbreitet sei.[43]

    Ausprägungen des islamischen Rechts[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Nichtmuslime[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Die Scharia umfasst neben den Rechten von Muslimen auch Nicht-Muslime, die auf islamischem Territorium leben. Diese wurden zwar bis zu einem gewissen Grad beschützt, standen Muslimen jedoch nicht gleichberechtigt gegenüber. Die Benachteiligung von Nicht-Muslimen war von staatlicher Seite in vielen Fällen institutionalisiert. So durften sie keine hohen Staatsämter bekleiden und keinen Militärdienst absolvieren. Allerdings kam es zwischenzeitlich auch immer wieder zu Lockerungen solcher Vorschriften. In solchen Zeiten stiegen Nicht-Muslime oft in hohe Ämter auf.[44]

    Unterhaltsrecht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Laut Rohe spiegelt das islamische Unterhaltsrecht die Lebensbedingungen patriarchalischer Großfamilien wider. Deshalb sind traditionell Männer unterhaltspflichtig. Falls der Mann dieser Pflicht aus materiellen Gründen nicht nachkommen kann, ist die Frau gegenüber ihren Kindern dafür zuständig, für diese zu sorgen. Die nächste Instanz wäre dann – außer bei den Malikiten – die Großeltern. Sollte ein Mann seinen Pflichten während der Ehe nicht nachkommen, ist es der Frau erlaubt, die Scheidung einzureichen. In den meisten Fällen wird ihr dies auch erlaubt, wenn ein Dritter für den Unterhalt aufkommt. Vor allem für Männer aus ärmeren Schichten stellt dies nicht selten ein Problem dar.[45]

    Söhne haben bis zur Volljährigkeit einen Anspruch auf Unterhalt, Töchter bis zur Heirat und ab dem Tod ihres Ehemanns. Eltern, Großeltern und Enkel haben ebenfalls das Recht, einen Anspruch auf Unterhalt zu stellen, wenn sie ökonomisch nicht auf eigenen Beinen stehen. Entfernte Verwandte muss jedoch nur ein reicher Mann versorgen. Über die Höhe der Zahlungen herrscht kein Konsens. Laut den Fatāwā ʿĀlamgīrīya soll die Höhe jedoch am möglichen Erbanteil bemessen werden. Auch die Konkurrenz zwischen Kindern und Eltern des Unterhaltspflichtigen ist Thema vieler Debatten.[46]

    Im Falle einer Scheidung variierte die Höhe des Entgelts für die Frau stets. Meist wurde ihr jedoch mindestens das Brautgeld (mahr) zugesprochen. Falls die Scheidung von ihr ausgegangen ist, entfielen die Kosten für den Mann im Normalfall. Es gibt Beispiele in der Geschichte, die belegen, dass Frauen auch zur Scheidung gezwungen wurden.[47]

    Neuere Entwicklungen spiegeln teils noch immer patriarchalische Vorstellungen wider. In Ägypten hat beispielsweise der Sohn bis zu seiner Volljährigkeit einen Anspruch auf Unterhalt, während ihn die Tochter bis zur Ehe oder bis zum Eintritt ins Berufsleben hat. Sie ist jedoch weder verpflichtet zu heiraten noch zu arbeiten. In Marokko, Tunesien, Libyen und den Vereinigten Arabischen Emiraten jedoch muss eine vermögende Ehefrau ebenfalls zum Unterhalt beitragen.[48]

    Wenn sich ein Mann von seiner Frau scheiden lässt, muss er beispielsweise in Tunesien gemäß dem Lebensstandard während der Ehe weiterhin für seine Frau sorgen, bis sie wieder heiratet. In Ägypten hat die Frau einen Anspruch auf Unterhaltszahlungen für zwei Jahre, in Algerien kann der Mann, der sich willkürlich von seiner Frau geschieden hat, zu Zahlungen verurteilt werden. Dies trifft auch auf ihn zu, sollte die Frau sich berechtigterweise von ihm scheiden. Im Iran muss der Mann im Falle einer Scheidung der Frau das restliche Brautgeld, „Unterhalt und eine angemessene Ausstattung zur Verfügung“ stellen. Sollte die Frau sich weigern, dies anzunehmen und ihre ehelichen Pflichten nicht verletzt haben, dann hat sie zudem Anspruch auf ein finanzielles Entgelt für ihre haushaltlichen Dienste während der Ehe.[49]

    Scharia in der Gegenwart[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Scharia wird unterschiedlich angewandt; je nach Land oder Region unterscheidet sich ihre Ausprägung.

    Prinzipiell kann sich das Verhältnis von Staat und Religion rechtlich folgendermaßen gestalten:

    • Inkorporation „von oben“: Der Staat selbst erlässt religiös geprägtes Recht. In zahlreichen Staaten mit dem Islam als Staatsreligion bildet die Scharia von Verfassungs wegen die Grundlage der Gesetzgebung.
    • Delegation „von oben“: Der Staat verweist auf religiöse Normen und/oder Institutionen, sei es direkt fürs Inland, sei es indirekt für Fälle mit Auslandsbezug[50] (IPR, IZPR). Das kann insbesondere bestimmte Teile des Zivilrechts betreffen (Familien-, Erb-, Personenrecht; Personalstatut); bisweilen wird auch nur eine religiöse Form der Eheschließung gestattet (z. B. Mufti-Ehe in der Türkei;[51] vgl. Zivilehe).
    • Inkorporation/Delegation „von unten“: Die Rechtsbetroffenen nutzen die Vertragsfreiheit durch privatautonome Ausgestaltung vertraglicher Bestimmungen (Integration) oder durch Rechtswahl- oder Schiedsgerichtsklauseln (Delegation),[52] um ihren religiösen Rechtsvorstellungen Geltung zu verschaffen.
    • Nebeneinander: Das religiöse Recht steht unabhängig neben dem staatlichen (vom Staat akzeptiert oder informell). Siehe auch: Trennung zwischen Staat und religiösen Institutionen.

    Folgend einige Beispiele.

    Islamisch geprägte Staaten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Demonstration für die Einführung der Scharia auf den Malediven 2014 mit dem Schwarzen Banner

    Laut der jeweiligen Verfassung ist die Scharia Grundlage der Gesetzgebung in folgenden Staaten: Ägypten (Art. 2), Bahrain (Art. 2), Irak (Art. 7), Iran (Art. 4), Jemen (Art. 3), Katar (Art. 1), Kuwait (Art. 2), Libyen (Art. 1), Mauretanien (Präambel), Oman (Art. 2), Pakistan (Sec. 227), Palästina (Art. 4), Saudi-Arabien (Art. 23), Vereinigte Arabische Emirate (Art. 7). In Afghanistan (Art. 3), auf den Malediven (Art. 10) und in Somalia (Art. 2) darf die Gesetzgebung der Scharia nicht widersprechen. Hinzu kommen Teilgebiete von Staaten wie die nördlichen Bundesstaaten Nigerias, die indonesische Provinz Aceh oder die philippinische Region Bangsamoro.

    2010 begannen in vielen arabischen bzw. nordafrikanischen Ländern Revolutionen (zusammenfassend Arabischer Frühling genannt). Im Zuge dieser Revolutionen kam es in diesen Ländern zu Wahlen bzw. Verfassungsreferenden. In vielen Ländern wurde bzw. wird diskutiert, welche Rolle der Islam in Gesellschaft und Rechtssystem haben soll.

    Allgemein verbreitet ist die Umsetzung im zivilrechtlichen Bereich beispielsweise in Algerien, Indonesien und Ägypten.[53]

    In einigen Staaten gilt die Scharia vollständig, etwa in Saudi-Arabien und Mauretanien. Zuweilen gilt die Scharia nur in islamisch dominierten Landesteilen (Nigeria oder Aceh (Indonesien), siehe auch Scharia-Konflikt in Nigeria).

    So wird zum Beispiel in Ländern wie Somalia und Sudan, wo Hadd-Strafen vollstreckt werden, auch die Schwangerschaft einer unverheirateten Frau oder einer Ehefrau, deren Ehemann abwesend ist, als Beweis für Unzucht genommen. In einigen Ländern werden selbst vergewaltigte Frauen aufgrund solcher „Beweisführung“ bestraft.

    Die Bedeutung der Scharia nimmt seit etwa Mitte der 1970er Jahre in allen islamischen Ländern wieder kontinuierlich zu. Auch in der laizistischen Türkei mehren sich politisch einflussreiche Stimmen, die die Rückkehr zum islamischen Scharia-Recht fordern. Im Zuge der Revolution in Ägypten gab es im März 2011 ein Verfassungsreferendum.

    Demgegenüber finden jedoch auch immer mehr alternative Interpretationsansätze der Scharia in der islamischen Welt Gehör. Diese Intellektuellen fordern dazu auf, bei der Auslegung des Korans den historischen Kontext zu beachten. Beispiele sind Fazlur Rahman in Pakistan, Muhammad Schahrur in Syrien, Abdulkarim Sorusch im Iran, Muhammad Abed al-Jabri in Algerien, Hassan Hanafi in Ägypten und nicht zuletzt viele Theologen in der Türkei.[54]

    Die praktische Umsetzung des islamischen Rechts ist in den islamischen Ländern sehr unterschiedlich. In manchen Staaten gibt es eine theokratische Identität von offiziellem Recht und Scharia, in anderen wurde die Scharia abgeschafft, in manchen hat sie – im Sinne eines Rechtspluralismus – lediglich für einen Teil der Bevölkerung Gültigkeit.

    Türkei[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    In der Türkei wurde die Scharia mit der Verfassung vom 20. April 1924 unter Mustafa Kemal Atatürk abgeschafft.

    Tunesien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    In Tunesien wurde sie mit der Verfassung vom 1. Juni 1959 abgeschafft. Lediglich Artikel 38 der tunesischen Verfassung schreibt fest, dass der Präsident ein Muslim sein muss.[55]

    Malaysia[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    In Malaysia existiert ein duales Rechtssystem, in dem islamische Gerichtshöfe parallel zu zivilstaatlichen Institutionen operieren. Drei der 13 Bundesstaaten des Landes erlauben etwa die Auspeitschung nach den Regeln der Scharia, obwohl dies landesweit nach dem Kriminalstrafrecht verboten ist.[56]

    Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Im Jahr 1990 wurde bei der 19. Außenministerkonferenz der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam beschlossen, welche als Leitlinie der z. Zt. 57 islamischen Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Menschenrechte gelten soll. In den abschließenden Artikeln 24 und 25 wird die religiös legitimierte islamische Gesetzgebung, die Scharia, als einzige Grundlage zur Interpretation dieser Erklärung festgelegt.[57]

    Die Erklärung wird von Islam-Vertretern als islamisches Gegenstück zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO gesehen, von der sie jedoch erheblich abweicht, da sie die Scharia zur Grundlage der Menschenrechte erklärt.

    Scharia und westliche Staaten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    In westlichen Industriestaaten sowie in sonstigen nicht islamisch geprägten Ländern der Welt kann die Scharia – vermittelt über das jeweilige Internationale Privatrecht des Landes – Rechtswirkung entfalten. Allerdings findet die Geltung etwa in Deutschland ihre Grenzen im Ordre public: So werden Normen, die mit rechtlichen Grundvorstellungen unvereinbar sind, nicht angewendet.[58]

    Grundlage für rituelle Vorschriften ist das Fiqh al-aqallīyāt (die „Jurisprudenz der Minderheiten“), welches eine Erleichterung für im Westen lebende Muslime erreichen möchte.

    Deutschland[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Religiöse Schiedsgerichte, wie es sie z. B. in Großbritannien gibt, sind in Deutschland verboten. In bestimmten Fällen, wie z. B. bei der Auflösung einer im Ausland gegründeten Ehe, können Aspekte des Scharia-Rechtsystems angewandt werden, solange das Ergebnis keinen Widerspruch zur deutschen Rechtsordnung darstellt. Die rechtliche Grundlage hierfür ergibt sich aus dem internationalen Privatrecht, welches das Zusammenstoßen zweier nationaler Rechtssysteme regeln soll.[59][60]

    In Deutschland wurde 2007 ein Gerichtsurteil einer Familienrichterin am Amtsgericht Frankfurt am Main diskutiert, welches den Antrag einer Frau auf eine beschleunigte Scheidung von ihrem gewalttätigen marokkanischen Mann ablehnte und dies unter anderem mit Zitaten aus dem Koran begründet haben soll.[61] Es sei im marokkanischen Kulturkreis üblich, dass der Mann gegenüber der Frau ein Züchtigungsrecht ausübe; damit habe die Frau bei der Heirat rechnen müssen. Die Richterin wurde anschließend infolge eines erfolgreichen Befangenheitsantrags von dem Fall abgezogen. Das Urteil wurde von vielen Politikern, Frauenrechtsorganisationen, dem deutschen Juristinnenbund und dem Zentralrat der Muslime scharf kritisiert.[62]

    Großbritannien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    In Großbritannien wird die Scharia nicht von den staatlichen Gerichten angewendet. Es gibt für bestimmte Fälle religiöse Schiedsgerichte, die auf freiwilliger Basis von den Parteien angerufen werden können. Dabei kommt die Scharia zur Anwendung, soweit sie nicht gegen Common Law verstößt.[63] Im Februar 2008 hat das Oberhaupt der anglikanischen Kirche, der Erzbischof von Canterbury Rowan Williams, es gegenüber der BBC[64] als „unvermeidlich“ bezeichnet, dass Elemente der Scharia im britischen Common Law anerkannt werden. Durch eine „konstruktive Adaption“ von Scharia-Elementen könnten zum Beispiel muslimischen Frauen westliche Ehescheidungsregeln erspart werden. Dabei gehe es nicht darum, „Unmenschlichkeiten“ der Gesetzespraxis in einigen islamischen Ländern in den Westen zu übertragen. Williams’ Einlassungen stießen in Großbritannien und innerhalb der anglikanischen Kirche vielfach auf Entrüstung, dabei wurde unter anderem darauf verwiesen, dass es nicht unterschiedliche Rechtssysteme für verschiedene Bevölkerungsgruppen innerhalb Großbritanniens geben dürfe.

    Eine gegenteilige Meinung vertritt der ehemalige anglikanische Bischof von Rochester Michael Nazir-Ali, der selbst wegen Morddrohungen pakistanischer Muslime nach Großbritannien geflohen ist.[65] Die von den britischen Zivilgerichten ergangenen Scheidungsurteile haben aus der Sicht der islamischen Rechtsprechung keine Gültigkeit. Ahmad al-Dubayan, der Vorsitzende des Rates für Schariagerichte in Großbritannien (Islamic Sharia Council), sagte 2016, dass die Situation mit den sich immer weiter verbreitenden Schariagerichten ein großes Problem sei. Er wisse nicht, wie viele dieser Gerichte es in der Zwischenzeit in Großbritannien gebe. Der Innenausschuss im britischen Unterhaus begann eine Ermittlung hinsichtlich der Ausbreitung des islamischen Rechts. Muslimische Verbände kritisierten dieses Vorgehen unmittelbar nach Bekanntwerden als Einmischung in die Religionsfreiheit.[66][67]

    Griechenland[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    In Griechenland gilt für die muslimische Minderheit (Pomaken und Türken in Westthrakien) in Angelegenheiten, die den persönlichen Status und das Familienrecht betreffen, die Scharia, sofern die Angehörigen der Minderheit ihre Angelegenheiten nach der Scharia anstelle des griechischen Rechts geregelt haben möchten. Das geht auf den Vertrag von Sèvres zurück.

    Kanada[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Der kanadische Arbitration Act (1991)[68] erlaubte es Christen, Juden und Muslimen in der Provinz Ontario, häusliche Dispute (wie Scheidungs-, Vormundschafts- und Erbschaftsklagen) vor einem religiösen Schiedsgericht zu verhandeln, wenn alle Parteien damit einverstanden waren. Die Urteile dieser Schiedsgerichte waren, sofern sie nicht geltendem kanadischen Recht widersprachen, rechtskräftig. Damit wurde die Scharia in Ontario in Spezialfällen von muslimischen Gerichten angewendet. Im September 2005 wurde der Arbitration Act (auch wegen internationaler Proteste durch Frauenrechtsorganisationen) derart geändert, dass Entscheidungen auf Grund von religiösen Gesetzen nicht mehr möglich sind.[69]

    USA[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    In den Vereinigten Staaten (Rechtssystem: Common Law, das sich vor allem auf frühere Präzedenzfälle stützt und daher von einzelnen Richtern leichter beeinflusst werden kann), haben 2010 die Bundesstaaten Tennessee und Louisiana die Anwendung der Scharia gesetzlich untersagt. In den Bundesstaaten Florida, Mississippi, Utah konnte solch eine gesetzliche Untersagung nicht durchgesetzt werden. In zwölf Bundesstaaten gibt es Anfang 2011 Gesetzesinitiativen, die die Anwendung der Scharia unterbinden sollen.[70]

    Kontroversen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    In Dänemark verfolgt eine islamistische Gruppe namens „Ruf zum Islam“ das Ziel, in muslimischen Wohngegenden in Kopenhagen Scharia-Zonen einzurichten, in denen eine „Moralpolizei“ das Verbot von Alkohol, Glücksspiel und Nachtleben überwacht.[71][72] Ähnliche Lobbygruppen soll es inzwischen auch in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Spanien geben.[71]

    In den Niederlanden ist die Diskussion über die Einführung der Scharia in vollem Gange, nachdem der damalige niederländische Justizminister Piet Hein Donner, ein Christdemokrat, im September 2006 erklärte, er könne sich die Einführung der Scharia in den Niederlanden gut vorstellen, wenn die Mehrheit der Wähler dafür wäre.[73] Mittlerweile wird diese Möglichkeit auch in universitären Kreisen ernsthaft diskutiert. Ein Symposium an der Universität Tilburg widmete sich dem Thema Sharia in Europe am 3. Mai 2007 und lud dazu u. a. die palästinensisch-amerikanische Islamwissenschaftlerin Maysam al-Faruqi von der Georgetown University in Washington, D.C., ein. Al-Faruqi erachtet Scharia und niederländisches Recht als kompatibel miteinander: „Beide Rechtssysteme können mühelos nebeneinander bestehen“.[74]

    Kritiker halten der Anwendung der Scharia in westlichen Ländern entgegen, dass die Scharia nicht mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vereinbar sei. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) urteilte in mehreren Verfahren, dass die Scharia „inkompatibel mit den fundamentalen Prinzipien in der Demokratie“ sei.[75][76]

    Der Politologe Bassam Tibi untersucht die Fragestellung, ob es eine spezifische arabische oder islamische Demokratie gibt. Aus seiner Sicht ist die islamistische Scharia ein totalitäres Konzept. Die Politisierung und „Schariasierung“ des Islam sei nicht vereinbar mit der Demokratie. Er nennt es „das Paradox der demokratischen Scharia“. Auf der anderen Seite gebe es im Islam bestimmte Reformen, die eine Quelle der demokratischen Legitimität sein könnten.[77]

    Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    Commons: Scharia – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
    Wiktionary: Scharia – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
     Wikinews: Scharia – in den Nachrichten

    Anmerkungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    1. arabisch شريعة Schariʿa, DMG Šarīʿa, im Sinne von „Weg zur Tränke, Weg zur Wasserquelle, deutlicher, gebahnter Weg“; auch: „[religiöses] Gesetz“, „Ritus“; (persisch شريعت, DMG Šarī‘at; türkisch Şeriat), abgeleitet aus dem arabischen Verb شرع scharaʿa, DMG šaraʿa ‚den Weg weisen, vorschreiben‘
    2. Mathias Rohe: Das Islamische Recht. Beck, München 2011, S. 9 (hier in der Google-Buchsuche).
    3. Vgl. H. Wehr: Arabisches Wörterbuch. Wiesbaden 1968, S. 424.
    4. Mathias Rohe: Das Islamische Recht. Beck, München 2011, S. 5–6 (hier in der Google-Buchsuche).
    5. Analyses - Wahhabism | PBS - Saudi Time Bomb? | FRONTLINE | PBS. Abgerufen am 26. März 2022.
    6. Vgl. H. Wehr: Arabisches Wörterbuch. Wiesbaden 1968, S. 424.
    7. Vgl. Die Zehn Gebote.
    8. N. Calder: S̲h̲arīʿa. In: EI² Online.
    9. Andreas Neumann: Rechtsgeschichte, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Islam. Hamburg 2012, ISBN 978-3-8300-5142-8, S. 5–6.
    10. Calder: S̲h̲arīʿa, in EI² Online; vgl. Hadith Nr. 4355.
    11. Tilman Nagel: Kann es einen säkularisierten Islam geben? In: Reinhard C. Meier-Walser, Rainer Glagow (Hrsg.): Die islamische Herausforderung – eine kritische Bestandsaufnahme von Konfliktpotenzialen (= aktuelle Analysen. Band 26). Hanns-Seidel-Stiftung e. V., Akademie für Politik und Zeitgeschehen, München 2001, ISBN 3-88795-241-3, S. 9–21, hier: S. 15. Digitalisat (Memento vom 9. Februar 2018 im Internet Archive)
    12. Peter Heine: Ein System großer Flexibilität – Der Begriff „Scharia“ provoziert ständige Missverständnisse. In: Herder Korrespondenz. Band 65, Nr. 12, 2011, S. 613–617. Digitalisat (Memento vom 10. Februar 2018 im Internet Archive)
    13. Heine: Ein System großer Flexibilität – Der Begriff „Scharia“ provoziert ständige Missverständnisse. Digitalisat (Memento vom 10. Februar 2018 im Internet Archive)
    14. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 10.
    15. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 10.
    16. Heine: Ein System großer Flexibilität – Der Begriff „Scharia“ provoziert ständige Missverständnisse. Digitalisat (Memento vom 10. Februar 2018 im Internet Archive)
    17. Heine: Ein System großer Flexibilität – Der Begriff „Scharia“ provoziert ständige Missverständnisse. Digitalisat (Memento vom 10. Februar 2018 im Internet Archive)
    18. Natalie Amiri: Zwischen den Welten. Von Macht und Ohnmacht im Iran. Aufbau, Berlin 2021, ISBN 978-3-351-03880-9; Taschenbuchausgabe ebenda 2022, ISBN 978-3-7466-4030-3, S. 81.
    19. A. J. Wensinck, J. H. Kramers (Hrsg.): Handwörterbuch des Islam. Brill, Leiden 1941, S. 674.
    20. A. J. Wensinck, J. H. Kramers (Hrsg.): Handwörterbuch des Islam. Leiden 1941, S. 674–676.
    21. Carl Heinz Ratschow: Ethik der Religionen. Ein Handbuch. (1980), S. 185.
    22. Calder: S̲h̲arīʿa in EI² Online.
    23. Calder: S̲h̲arīʿa in EI² Online.
    24. Calder: S̲h̲arīʿa in EI² Online.
    25. Ibn Ḫaldūn: al-Muqaddima. Band 2. Dimašq, Dār al-Balḫī 2004, S. 185,Textarchiv – Internet Archive. Die deutsche Übersetzung entstammt Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 12.
    26. Gudrun Krämer: Demokratie im Islam. Der Kampf für Toleranz und Freiheit in der arabischen Welt. C. H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-62126-0.
    27. Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Verlag der Religionen im Insel Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-458-71033-2.
    28. Ingrid Thurner: 1001 Wege der Rechtsfindung. In: Wiener Zeitung, 16. Februar 2013.
    29. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 48–49.
    30. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 49.
    31. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 52–53.
    32. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 53.
    33. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 58.
    34. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 62.
    35. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 64–66.
    36. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 66.
    37. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 67.
    38. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 68.
    39. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 71.
    40. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 72.
    41. O. Spies und E. Pritsch: Klassisches islamisches Recht. In: Bertold Spuler (Hrsg.): Handbuch der Orientalistik. Erste Abteilung: Der Nahe und der Mittlere Osten. Ergänzungsband III: Orientalisches Recht. Brill, Leiden/Köln 1964, S. 222.
    42. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 43.
    43. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 43–44.
    44. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 154.
    45. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 97–98.
    46. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 98.
    47. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 94–95.
    48. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 229.
    49. Rohe: Das Islamische Recht. München 2011, S. 230.
    50. im europäischen Kollisionsrecht seltener geworden durch den Übergang von der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit zur Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt (Rom-III-VO, EuErbVO); instruktiv zur früheren Rechtslage Peter Scholz: Grundfälle zum IPR: Ordre public-Vorbehalt und islamisch geprägtes Recht, ZJS 2010, 185, 325
    51. türkisches Personenstandsgesetz (Gesetz Nr. 5490, Nüfus Hizmetleri Kanunu), Art. 22 Abs. 2; Bergmann aktuell: Vornahme von Eheschließungen durch Muftis ermöglicht (26. Oktober 2017)
    52. Franziska Hötte: Religiöse Schiedsgerichtsbarkeit (2013)
    53. Zur Entwicklung in Ägypten ab den 1950er Jahren siehe auch Sayyid Qutb.
    54. Ömer Özsoy: Die fünf Aspekte der Scharia und die Menschenrechte in Forschung Frankfurt 1/2008. S. 27. Digitalisat (Memento vom 22. Januar 2020 im Internet Archive) (PDF; 4,6 MB)
    55. The Constitution of Tunisia (Memento vom 31. Januar 2011 im Internet Archive) (PDF)
    56. Malaysian Groups Condemn Caning of Women in Shariah Sex Case. Bloomberg.com, 18. Februar 2010
    57. Text der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam (engl.). Digitalisat (Memento vom 10. Juni 2007 im Internet Archive)
    58. Scharia in Deutschland? FAKTENcheck: Islamisches Recht. In: Neues Deutschland, 16. Oktober 2010.
    59. Barbara Schneider: Scharia hält Einzug in deutsche Gerichtssäle. In: Welt Online. 1. Februar 2012, abgerufen am 7. November 2019.
    60. Scharia und Grundrechte von Frauen in der Bundesrepublik. In: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages. Deutscher Bundestag, 2008, abgerufen am 2. September 2020.
    61. WELT: Richterin verweist auf Züchtigungsrecht im Koran. In: DIE WELT. 21. März 2007 (welt.de [abgerufen am 2. Oktober 2020]).
    62. Das bizarre Recht auf Prügeln. In: Sächsische.de. 23. März 2007, abgerufen am 2. Oktober 2020.
    63. J. Waardenburg: Muslims and Others. Walter de Gruyter, 2003, S. 316.
    64. England entrüstet über Scharia-Erzbischof. heute.de
    65. Bischof Nazir-Ali spricht trotz Todesdrohungen weiter über den Islam. Kath.net, 25. Februar 2008.
    66. Joe Barnes: Muslims 'have the right’ to use Sharia law in Britain, says activist, Daily Express 3. November 2016
    67. Leda Reynolds: Sharia court told rape victim to return to her attacker husband | UK | News |, Daily Express 14. November 2016
    68. https://www.ontario.ca/laws/docs/elaws_statutes_91a17_ev001.doc https://exhibits.library.utoronto.ca/exhibits/show/canadianlawandidentity/cdnlawreligion/cdnlawreligionarb
    69. Abänderung des Arbitration Act (Memento vom 4. März 2011 im Internet Archive) (PDF; 236 kB) Maryam Namazie
    70. Tim Murphy: Map: Has Your State Banned Sharia? motherjones.com, 11. Februar 2011.
    71. a b Henryk M. Broder: Islamische Moralpolizisten fordern „Scharia-Zonen“. Welt Online, 31. Oktober 2011, Kommentar; abgerufen am 4. April 2012.
    72. Video heute: Gilt bald die Scharia in Dänemark? in der ZDFmediathek, abgerufen am 9. Februar 2014. (offline)
    73. Donner naïef in uitspraken sharia. Radio Nederland, 13. September 2006 Donner naïef in uitspraken sharia (Memento vom 16. Mai 2007 im Internet Archive)
    74. Sharia kan zonder probleem in Nederland worden ingevoerd. Nieuw Religieus Peil, 13. Mai 2007.
    75. So etwa in: Case Of Refah Partİsİ (The Welfare Party) And Others V. Turkey (Applications nos. 41340/98, 41342/98, 41343/98 and 41344/98), Judgment, Strasbourg, 13 February 2003, No. 123 (siehe S. 39): „The Court concurs in the Chamber’s view that sharia is incompatible with the fundamental principles of democracy, as set forth in the Convention“; vgl. Alastair Mowbray: „Cases, Materials, and Commentary on the European Convention on Human Rights“, OUP Oxford, 29. März 2012, S. 744, Google-Books-Archivierung; siehe auch „The European Court of Human Rights in the case of Refah Partisi (the Welfare Party) and Others v. Turkey“ (Memento vom 9. Juli 2021 im Internet Archive), 13. Feb. 2003, Ziffer 123 u. weitere Ziffern im gleichen Dokument
    76. Siehe auch sueddeutsche.de, 14. Sept. 2017: Gegen Scheidungen nach Scharia-Recht
    77. Bassam Tibi: Islamism and Islam. Yale University Press, (2012), S. 114